Was macht Lion Pygma so spät noch in der Fabrik? Eigentlich sollte es ja ein Geheimnis sein und ein Geheimnis bleiben. Aber wo gibt es schon Geheimnisse unter den Göttern. In Zeiten der Überwachungskameras sind Götter fast allwissend. Was, Lion werkt in einer dunklen Ecke in einer alten Fabrik, keine Kameras und fast kein Licht, weil er sich angeblich beobachtet fühlt. War Hermes wohl wieder zu dreist, der Junge hat keinen Anstand. Tatsache ist, Lion hat keine Frau. Das gibt euch wohl zu denken - habe ich recht? Und Götter haben gute Augen.
Beim trüben Schein der Glühbirne saß Lion Pygma in der kleinen Abstellkammer der Fabrik. Er hatte die Kammer gewählt, weil er genau wusste, dass hier außer ihm schon lange keiner gewesen war. Er hatte lange seine Kollegen, die Werkmeister, die Putzfrauen, eben alle die hier ein und ausgingen beobachtet und irgendwann festgestellt, dass nie jemand hineinging. Eine Türe, die immer verschlossen war, ein Raum der nie betreten wurde. Irgendwann spät abends, als alle gegangen waren, hatte er das Schloss aufgebrochen und den Schlosszylinder getauscht. Jetzt war er der einzige, der den Schlüssel dazu besaß.
Heute war der große Tag. Bei sich nannte er ihn den Tag der "Anprobe". Noch einmal warf er einen Blick auf das lebensgroße Poster der Frau, das er mit Klebestreifen an die Wand geklebt hatte. Sie war ihm damals sofort aufgefallen und seither konnte er keine Nacht mehr schlafen, keinen Tag mehr verbringen, ohne an sie zu denken. Ja keine Sekunde verging ohne einen Gedanken an sie. Er hatte sie nie lebend gesehen, aber er hatte aus Zeitschriften, Magazinen und Zeitungen alle Fotos, Bilder, Artikel ausgeschnitten und gesammelt. Er hatte sich einfach grenzenlos in sie verliebt, so etwas war ihm nie vorher passiert. Er hatte sich vor Frauen immer gefürchtet, ja sie geradezu verabscheut.
Beim zufälligen Vorbeigehen an einer jener Auslagen, die mit Frauen und dem, was sie mit Männern anstellen konnten, zusammenhingen und die ihn normaler weise seine Schritte beschleunigen und seinen Blick abwenden ließen, war er auf einmal gebannt stehen geblieben. Eine Frauengestalt, nackt, leblos und doch auf seltsame Weise lebendig war durch ein handtellergroßes Loch zu sehen gewesen. Dieser winzige Augenblick hatte genügt, in seinem Gehirn die Verbindung zwischen seiner Geliebten, dieser seltsamen Gestalt und der Fabrik in der er arbeitete herzustellen.
Sein Leben lang war er jetzt schon damit beschäftigt, tagaus, tagein jene Dinge zu entwerfen und herzustellen, die den Kindern im Sommer diese unbändige Freude bereiten konnten, Schwimmreifen, Luftmatratzen und aufblasbare Gummitiere in allen Formen und Farben. Er wusste um die Möglichkeiten des Materials Bescheid, seiner Anschmiegsamkeit und Weichheit und dann wieder war es doch fest und zäh, wenn es darauf ankam. Die Teile mussten nur genau passend geplant und zugeschnitten, in Form gepresst und geklebt werden um perfekt zu sein. Die Natur war da schon immer sein großes Vorbild gewesen und bei manchen seiner Werke, war er überzeugt davon, dass er es sogar besser konnte, als die Natur.
Er stellte die Luftpumpe, jenen Gegenstand, der seinen Werken das Leben einhauchte, vor sich auf den Boden und warf einen letzten kritischen Blick auf sein Werk, auf "sie", wie sie so ausgestreckt und flach vor ihm lag. Lange hatte er überlegt, wie viele Kammern sie haben sollte. Die Anzahl der Kammern war maßgeblich für die Festigkeit und Stabilität des Körpers und bestimmte andrerseits natürlich auch die Möglichkeiten der Konstruktion und was zum Beispiel bei einer Verletzung passierte. So viele Bücher hatte er über den menschlichen Körper gelesen, besonders den der Frauen natürlich und da wiederum hatten ihn Worte wie "Weichheit" und "Rundung" besonders interessiert. Mit diesen Begriffen konnte er was anfangen - von Berufswegen sozusagen.
Die Nippel zum Aufpumpen, jene unvermeidbaren Bestandteile der aufgeblasenen Gummiwelt, die aber überhaupt nicht zu Rundungen und Weichheit, zu glatter Haut und Anschmiegsamkeit passten, hatten ihm bei seinen Gummitieren immer besonderes Kopfzerbrechen bereitet und immer musste er sie so gut es ging verbergen, und dann hatte er hier gleich die richtige Lösung gefunden.
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(2003)